Camerons Veto in Brüssel: Auf Wiedersehen, England! – DER SPIEGEL – 9.12.2011
Ein Kommentar von Roland Nelles
Europa erwacht und reibt sich die Augen: Die europäische Idee, wie wir sie kennen, ist dabei, sich in Luft aufzulösen. Das große Nachkriegsprojekt eines friedvoll geeinten Kontinents, in dem sich alle Mitgliedstaaten an den Händen fassen, ist vergangene Nacht in Brüssel gescheitert. Europa hat sich in der Not aufgeteilt: Nun gibt es auf der einen Seite das Euro-Europa, das dem deutsch-französischen Führungsanspruch folgt und endlich mehr zusammenwächst, um die Euro-Krise in den Griff zu bekommen.
Und es gibt das Vereinigte Königreich, das danebensteht und nicht mitspielen will.
Das ist neu: Der nächtliche Sowohl-als-auch-Kompromiss, die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, diese ureuropäische Erfindung, ist abgeschafft. Beim Geld hört die Freundschaft jetzt auf.
Man könnte auch sagen: Europa macht sich endlich ehrlich. Die Krise zwingt die Politik dazu sich von all jenen Ritualen und Heucheleien zu verabschieden, die in den vergangenen Jahren Europa geprägt haben. Die Briten nervten schon seit langem. Immer wollten sie dabei sein, mitreden und mitbestimmen, aber wenn es darum ging, sich wirklich für Europa zu engagieren, dem Euro beizutreten, hieß es von der Insel immer: “No Euro please, we are British!”
Bei den endlosen Europa-Gipfeln wurde dieser Widerspruch immer mit freundlichen Gesten und nettem Getue übertüncht. Doch damit ist es nun vorbei.
Großbritannien, das Mutterland der Realpolitik, das die Europa-Idealisten vom Kontinent immer ein wenig belächelt hat, wird nun ausgerechnet von diesen kontinentalen Idealisten mit einer knallharten realpolitischen Frage konfrontiert: Wollt ihr weiter mitmachen bei diesem geeinten Europa oder nicht?
Klar: Der Kontinent kommt auch ohne die Briten aus
Die Euro-Krise entfaltet kreative Kraft, aus der etwas Neues entsteht. Ein neues Europa. Diese Gebilde nennt Angela Merkel eine Fiskalunion, in Wahrheit ist Europa auf dem Weg in einen Bundesstaat. Deutschland und Frankreich werden diesen Bundesstaat anführen. Das hat die Nacht von Brüssel wieder einmal gezeigt. Aber: Wer führt, muss auch einbinden, großmännisches Getue für die innenpolitische Galerie schadet der Sache.
Das gilt für das Verhältnis zwischen den großen und den kleinen Staaten im Euro-Europa – aber auch für die Beziehungen zu Großbritannien. Der Wunsch ist klar: Natürlich muss Großbritannien beim Euro-Europa mitmachen. Das sollten Merkel und Sarkozy klar sagen.
Der Kontinent kann auch ohne die Briten klarkommen. Aber kann Großbritannien ohne den Kontinent, ohne den Euro in eine gute Zukunft steuern? Will es sich künftig allein auf die Allianz mit Amerika verlassen? Oder auf sein Commonwealth? Wo ist der Platz dieses doch eher kleinen Landes zwischen den großen Mächten China, Russland, Europa, Amerika?
Diese Fragen müssen die Briten beantworten – viel Zeit bleibt ihnen dafür nicht, sonst wird die Geschichte über sie hinwegziehen. Dann heißt es aus europäischer Sicht: Bye, bye England. Für immer. Schöner wäre natürlich: Auf Wiedersehen!
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