Krisenpatient Europa: Stark wie nie – SPIEGEL ONLINE – 8.12.2011

Von Florian Gathmann und Philipp Wittrock
Der Druck auf die europäischen Staatenlenker vor dem EU-Gipfel ist enorm. Aber droht dem Patienten Europa wirklich der Exitus, wenn das Treffen scheitert? Nein. Denn trotz Schuldenkrise war der Kontinent nie so kraftvoll wie heute: wirtschaftlich stark, ideologisch vital und außenpolitisch mächtig.
Relacionado:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,802205,00.html
Berlin – Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst heißt: Panik. Die Panik ist inzwischen weit gekommen, sie machte sich von den Rändern des Kontinents auf den Weg, von Irland, Portugal, Griechenland – inzwischen ist sie im Herzen Europas. In Deutschland sorgt man sich dieser Tage um seinen Top-Status bei der Kreditwürdigkeit, genauso sieht es in Frankreich aus. Verliert eine der stärksten Volkswirtschaften sein bisher als sakrosankt angesehenes Triple A, könnte man, so die Sorge, den vereinbarten Euro-Schutzschirm direkt wieder zuklappen.
Es ist die Stunde der Schwarzmaler.
- “Der Euro bedroht Europa”, sagt der ehemalige Industrie-Präsident Hans-Olaf Henkel.
- David Murrin, Vorstand des Hedgefonds Emergent Asset Management mit Sitz in Großbritannien, meint: “Europa ist im Schluss-Abschnitt seiner Existenz.” Seine Prognose: “Dass Europa bestehen bleibt, scheint unmöglich.”
- Frankreichs Europaminister Jean Leonetti mahnt: “Der Euro kann explodieren, und Europa kann auseinanderfallen.”
- Olli Rehn, Währungskommissar der EU, spricht von “zehn kritischen Tagen”, in denen eine Lösung gefunden werden müsse. Die Frist endet mit dem Euro-Krisengipfel an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel.
- Die britische Vorsitzende des Währungsausschusses im Europaparlament, Sharon Bowles, erklärte gerade, der Euro überlebe womöglich nur noch bis Weihnachten. Der EU gibt sie für diesen Fall noch sechs Monate.
Der Kanzlerin sind solche düsteren Szenarien eigentlich zuwider. Doch selbst Angela Merkel warnt: “Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.”
Die Panik ist längst auch auf der anderen Seite des Atlantiks angekommen. Zwar witzelte US-Präsident Barack Obama kürzlich darüber, dass er noch nie so viele Telefonate nach Europa geführt habe wie in den vergangenen Wochen, das letzte mit der Kanzlerin am Vorabend des EU-Gipfels. Der Hintergrund der Dauerferngespräche allerdings ist bitterernst: Würde der Euro zusammenbrechen und mit ihm der Wirtschaftsraum auf dem Kontinent, hätte das fatale Folgen für die USA. Nicht weniger groß ist die Sorge vor einem Euro-Crash in Asien.
Die Schuldenkrise hat Europa tatsächlich schwer getroffen. Bisher ist keines der Rettungsrezepte aufgegangen, am Donnerstagabend wollen die Staats- und Regierungschef den nächsten Versuch starten. Vor allem Deutschland und Frankreich haben den Druck spürbar erhöht, endlich einen überzeugenden Ausweg zu finden.
Aber ist das wirklich der letzte Schuss? Was passiert, wenn es erneut nicht gelingt, das Vertrauen der Investoren wiederzugewinnen? Steht Europa wirklich vor dem Abgrund, zerbricht die EU?
Tatsächlich war Europa nie so kraftvoll wie heute. Ein Überblick:
Wirtschaftskraft – enormes Potential
Die Europäische Union dürfte für das laufende Jahr auf ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von etwa 12,7 Billionen Euro kommen – rund zwei Billionen Euro mehr als die USA. Die EU ist weiterhin mit Abstand der größte Binnenmarkt der Welt, angetrieben von Deutschland mit einem erwarteten BIP von knapp 2,6 Billionen Euro für 2011 und Frankreich mit gut 2,0 Billionen. Die Staatsschuldenquote wiederum wird in der EU für 2011 deutlich geringer ausfallen als in den USA: 82,3 Prozent erwartet man für die 27 Mitgliedstaaten, 98,3 Prozent auf der anderen Seite des Atlantiks.
Auf den ersten Blick spricht das für die Stärke der Europäischen Union. Doch die Schuldenkrise könnte vieles zunichte machen. Geringeres Wachstum, niedrigere Gewinne, weniger Arbeitsplätze – das wären die Konsequenzen für die EU, vor allem für die 17 Euro-Staaten, falls man nicht bald einen Anti-Krisen-Hebel findet.
Doch selbst dann wäre Defätismus wohl fehl am Platze. Anders als die USA verdankt die Europäische Union einen wichtigen Teil ihrer Wirtschaftskraft produzierenden Unternehmen. Diese Industrien sind hoch entwickelt und verfügen über hohe Innovationskraft. Auch der gemeinsame Binnenmarkt gehört zu den Stabilitätsankern der EU.
Integrationskraft – Europa ist attraktiv
Europa hat nichts von seiner Attraktivität verloren. Noch immer streben die Nachbarn an der Peripherie in die EU hinein. In all dem Krisenkrawall gerät fast völlig in Vergessenheit, dass am Freitag auf dem Brüsseler Gipfel
- der Beitrittsvertrag mit Kroatien unterzeichnet wird, das wahrscheinlich Mitte 2013 der 28. Mitgliedstaat wird.
- Mit Island und der Türkei laufen Verhandlungen,
- Mazedonien und Montenegro haben ebenfalls Beitrittskandidatenstatus,
- Albanien und Serbien haben einen Antrag gestellt, andere könnten folgen.
Viele Nachbarn bis hin zu Nordafrika und dem Nahen Osten pflegen besondere, vertragliche Beziehungen zur EU.
Den meisten, die in den EU-Club wollen, geht es natürlich vor allem um die wirtschaftlichen Vorteile. Doch auch die ganz profanen Dinge haben heute noch ihren Reiz für die Menschen, vor allem für jene aus den Staaten des zerfallenen Ostblocks. Sie wollen dazu gehören zur großen europäischen Familie, ohne ihre nationale Identität aufzugeben. Sie wollen reisen ohne Visum und ohne Grenzen, und sie wollen auch jetzt noch mit dem gleichen Geld bezahlen, überall auf dem Kontinent.
Selbst die friedensstiftende Kraft der EU hat kaum nachgelassen. Nicht umsonst wird in diesen Tagen, in denen die düstersten Szenarien für die Zukunft des Kontinents kursieren, immer wieder daran erinnert und vor dem Zerfall Europas zum Preis eines Krieges gewarnt. Glauben mag daran keiner so recht. Dennoch gilt auch heute noch: Wer dazu gehört, der hat Verbündete. Und wer dazu gehören will, der muss sich auch gemeinsamen, freiheitlichen Werten verpflichten. Die Integrationskraft der EU ist also keine Einbahnstraße.
Außenpolitik – gemeinsam stark
Außerhalb Europas macht man sich gerne lustig über dieses seltsame Gebilde EU, vor allem in den USA. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger fragte einst spöttisch nach der Telefonnummer Europas – in Anspielung darauf, dass sich die Europäer so schwer damit tun, gemeinsame Positionen zu finden. Das mag auch heute noch so sein, selbst wenn die EU inzwischen so etwas wie einen Außenminister hat. Den Posten hat derzeit Catherine Ashton inne, dennoch ruft Barack Obama immer noch bei Angela Merkel oder Nicolas Sarkozy an.
Die Nationalstaaten geben in Europa also noch immer den Ton an, daran wird sich so schnell auch nichts ändern. Trotzdem: Erst in der Gemeinschaft sind Deutschland, Frankreich und vor allem die kleinen Partner wirklich stark. Die Union und ihre Wirtschaftskraft machen Europa auch außenpolitisch mächtig. Wirtschaftssanktionen sind in der EU ein beliebtes Mittel, um andere Staaten zu bestrafen und diese Macht spüren zu lassen. Als Einheit gehört die EU zur Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern – mit dem größten Bruttoinlandsprodukt von allen. In der Gruppe der acht mächtigsten Staaten der Welt kommt die Hälfte aus Europa.
Auch bei jeder wichtigen Militärmission ist die EU vertreten, wenn auch nicht mit einer Europa-Truppe. Bundeswehr, British Forces, die französischen, dänischen oder italienischen Streitkräfte teilen sich die Aufgaben bei den Einsätzen auf der ganzen Welt. Ohne europäische Unterstützung wären selbst die Amerikaner überfordert. Europa mag nicht immer mit einer Stimme sprechen, sein außenpolitischer Einfluss aber wächst stetig.
Fuente: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,druck-802237,00.html